Mein Weg

Mein Weg

Ich möchte euch gerne erzählen, warum ich Therapeutin geworden bin und im Bereich der Essstörungen hauptsächlich tätig bin. Ich liebe meine Arbeit und möchte um nichts auf der Welt etwas anderes tun…..

Meine Jugend und die darauf folgenden Jahre, insgesamt 20 Jahre meines Lebens, war ich krank. In der Pubertät spürte ich, dass ich mich sukzessive selber verloren habe. Ich fühlte mich immer schlechter in mir, ich hatte das Gefühl, dass alle anderen besser, hübscher, erfolgreicher, beliebter und vieles Positive mehr waren. Ich war in meinen Augen ein Nichts…..

Ganz langsam entwickelte ich eine Essstörung. Viele Monate hätte ich nicht vor mir selber und erst recht nicht vor anderen zugegeben, dass ich krank war. Ich fühlte mich schlecht, isoliert, einsam und traurig. Aber warum sollte das eine Erkrankung sein?

Wenn mich meine Eltern, meine Freunde oder auch Lehrer ansprachen, reagierte ich verärgert und konnte sie absolut nicht verstehen. Je tiefer ich in die Essstörung „abrutschte“, desto intensiver merkte ich, dass ich mich durch sie wieder spüren konnte. Ich habe meine eigene, kleine Welt aufgebaut, in der ich stark und stolz war. Hier konnte ich bestimmen, hier war ich perfekt. Je niedriger die Zahl auf der Waage war, desto besser fühlte ich mich. Unbewusst dachte ich, dass ich hier die Bestätigung fand, die ich im Außen nicht bekommen könnte, da ich mich ja zu schlecht fühlte.
Diese Bestätigung war rein subjektiv empfunden. Ich hatte immer viele Freunde und war durch mein sehr emphatisches und liebevolles Wesen auch wirklich beliebt. Dies konnte ich jedoch durch meine Erkrankung nicht sehen….

Und so ging es immer weiter bergab mit mir.

Nach dem Abitur habe ich die Qualen und die psychischen Schmerzen dieses „Anders sein als die Anderen“ nicht mehr ausgehalten und habe mir gedacht, wenn ich nur weit genug weg fahre oder fliege, dann wird es mir schon besser gehen. Dann hätte ich ein anderes Leben und wäre gesund und zufrieden.

Ich hätte auch auf den Mond fliegen können, die Krankheit wäre immer mit gekommen. Dies war mir natürlich damals nicht bewusst und ich flog auf eigene Faust als Au-Pair nach San Franzisco. Ich suchte mir eine Familie und versuchte, mich in der Ferne zu finden.
Meine Eltern haben mich (zum Glück) über Weihnachten besucht und sind bei der Begrüßung am Flughafen fast weinend zusammen gebrochen. Ich war so dünn, dass es ein Wunder war, dass meine dünnen Storchenbeine mich noch tragen konnten und meine Organe noch arbeiteten.
Meine Eltern versuchten, sofort mit mir nach Deutschland zurück zu fliegen, um mich dort in eine Klinik einweisen zu lassen, damit ich eine Chance hatte, diesen Zustand zu überleben. Ich fühlte mich noch schlechter als zuvor, da ich jetzt auch noch bestätigt bekommen hatte, dass ich nichts schaffe, dass ich wieder versagt hatte.

Zurück in Deutschland fing meine Odyssee an Arztbesuchen, Therapeuten und Klinikaufenthalten an. Immer wieder suchte ich therapeutische Hilfe auf, immer in der Hoffnung, dass mich jemand versteht und es einen Weg raus aus diesen furchtbar selbstverletzenden Gedanken geben würde. Am Symptom des Essens wurde gearbeitet, nicht aber an mir! Dies ist, als ob man auf eine eiternde Wunde nur ein Pflaster kleben würde.

In den Kliniken gab es Essprotokolle, Aufsicht beim Essen, wöchentliches Wiegen und damit zusammenhängend sogar Bestrafungen, wenn man nicht „schön“ zugenommen hat. Ein essgestörter Patient ist sehr ehrgeizig, möchte gefallen und passt sich sehr schnell an seine Umgebung an. So hatte ich schnell begriffen, dass es der beste Weg ist, in den Kliniken „mit zu spielen“ und zu erfüllen, was verlangt wurde. In allen Klinikaufenthalten habe ich sehr schnell mein Gewicht hoch bekommen und die Ärzte waren immer überaus zufrieden mit mir. Sehr löblich, wie super ich immer mitgespielt habe!

Bei den Entlassungen wurde ich immer als „geheilt“ entlassen. Niemand außer mir wusste, dass ich jedes Mal bereits bei dem Weg aus der Klinik gedacht habe, wie furchtbar es ist, nun wieder meine geliebten Eltern und Mitmenschen zu enttäuschen, wenn sie merken, dass ich noch genau so krank war wie vor der Behandlung. Ich fühlte mich so schrecklich! Meine Eltern freuten sich über ihre „gesunde“ Tochter, erzählten überall herum, dass ich es geschafft habe und nun gesund bin. Nur ich wusste, dass diese Krankheit immer noch präsent in mir war und mich sofort zwang, wieder mit den Symptomen der Essstörung zu antworten. Erst fing ich heimlich wieder an zu hungern, dann wieder ganz offensichtlich. In meinem Kopf waren nur noch die Gedanken, was für ein schlechter Mensch ich doch war! Alle haben sich gefreut, dass ich angeblich gesund sei und ich enttäusche sie wieder!

Viele Jahre ging es so weiter, ein ständiges hoch- und runter. Doch es gab kein Entrinnen, die Gedanken waren immer präsent in meinem Kopf. Diese Gedanken konnte keiner verstehen und erst recht nicht nachvollziehen. Auch die Therapeuten konnten nur ihr Wissen aus den Büchern anwenden aber nicht in diese bizarre Welt der Essgestörten eindringen.

Manchmal dachte ich, dass es vielleicht besser wäre, nicht mehr am Leben zu sein. Dann müsste ich diese Gedanken nicht weiter ertragen….

Doch ich wollte ja leben! Warum konnte mir keiner helfen! War ich so „gestört“, dass ich alleine in meiner Welt bleiben musste?

Nach knapp 20 Jahren in der Magersucht kannte ich fast alle Lektüre über meine Krankheit auswendig. Es gab noch kein Internet und somit bestand die einzige Hoffnung auf Hilfe in Büchern. Doch nie habe ich einen Erfahrungsbericht über eine geheilte Betroffene gefunden.

Nach einem Umzug fand ich zufällig oder auch schicksalshaft ein Buch, welches dann tatsächlich mein Leben verändert hat!

In diesem Buch hat eine kanadische Mutter einer stark anorektischen Tochter über diese „geheime Sprache der Essstörung“ geschrieben. Jedes geschriebene Wort sprach mir aus der Seele. Ich hatte das Gefühl, als ob ich das Buch hätte schreiben können. Nie zuvor hat jemand verstanden, was ich dachte. Hier spiegelten sich auf jeder Seite meine Gedanken.

Nach der ersten Kontaktaufnahme bin ich zu dieser Frau, da nach der Genesung ihrer Tochter ein Therapiezentrum in Kanada eröffnet hatte, geflogen. Bereits im ersten Gespräch spürte ich, dass ich erkannt wurde, meine Gedanken waren nicht komplett „verrückt“ sondern entsprachen einer extrem subjektiven, gegen mich gerichteten Wahrnehmung. Ich bin ein hoch sensibler Mensch, der immer und ausschließlich für alle anderen da sein wollte und dafür alles versucht hat, zu geben. Ich kannte keine Grenzen und wurde somit immer kleiner in mir, bis ich mich selber aufgab.

Hier in Kanada bekam ich täglich Therapie. Wir setzten uns so intensiv wie noch nie zuvor mit diesen Gedanken, die ich ständig und überall in meinem Kopf hatte, auseinander. Ich habe in 1, 5 Jahren durch diese wunderbare und einzigartige Therapie zurück zu mir gefunden. Ich bin als völlig gesunde, junge Frau wieder zurück nach Deutschland geflogen. Ich war noch derselbe Mensch mit demselben sensiblen und sympathischen Charakter. Allerdings war ich gesund und bin bis heute stolz, die Frau zu sein, die ich nun sein darf!

Sandra Kettner im erkrankten Zustand am Anfang der Therapie in Kanada

Zurück in Deutschland konnte ich es kaum fassen, dass ich gesund war. Diese Gedanken, die immer und permanent in meinem Kopf ihr zuhause hatten, gab es nicht mehr. Ich war frei!

Ich lebte und erlebte mein neues Ich in den nächsten zwei Jahren erst einmal intensiv aus. Immer größer wurde jedoch der Wunsch, dass, was ich erlebt hatte, auch weiter zu geben. Schon lange wollte ich Therapeutin werden und sah nun meine Zeit gekommen, dies auch tatkräftig umzusetzen.

Im Jahr 2006 habe ich nach intensivem Studium die Überprüfung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie absolviert und bestanden. Nach umfangreichen Aus- und Fortbildungen habe ich danach meine Praxis eröffnet und therapiere genau in dem Bereich, der mir am Herzen liegt. Bis zum heutigen Tag habe ich noch freundschaftlichen Kontakt zu meinen Therapeuten aus Kanada und arbeite nun auch mit der Frau (Peggy Claude-Pierre) zusammen, die mir geholfen hat, wieder zurück ins Leben zu finden.

Auf dem Weg zum gesund werden:

mein Geburtstag zum Start in mein neues, gesundes Leben

Ich mit Peggy Claude-Pierre